17 Juni 2012

Befehl von unten! Menschen, Opfer und Täter nach Giorgio Agamben und Franz Wegener


Sich selbst zum Demokraten zu erklären, ist heute damit gleichbedeutend, sich seiner selbst und seiner Umwelt als guter Mensch zu verkünden. Ich bin das Volk in einer Volksherrschaft, also bin ich gut und mit mir ist es die Gesellschaft, deren Werte und Gesetze ich teile.

Wir sind Demokraten, wir sind gut. Oder?

Demokraten verhaften niemanden ohne ausreichenden Verdacht, sperren niemanden ein ohne gerichtliches Urteil, foltern niemanden. Oder?


Es könnte so bequem sein, über den Demokraten in sich den Menschen in sich zu verdrängen und so mit Jahrtausenden von staatlicher Willkür, Folter und Mord unserer Geschichte zu brechen.

Doch ach, Beobachter wie Giorgio Agamben verwandeln mit ihren Fragen unsere gemeinschaftliche Nestwärme der Gerechten in ein Krematorium, in dem die Schwärmereien unserer Selbstgefälligkeit in Rauch aufgehen.

Wieviel unterscheidet den homo sacer des antiken Rom wirklich vom KZ-Häftling, vom Inhaftierten in Guantanamo?


Nichts, folgt man Agamben. Er zieht eine bruchlose Linie politischer Machtsysteme, die die Ausnahmen von Recht und Gesetz als Notwendigkeiten rechtfertigen, um Recht und Gesetz zu bewahren.

Und der letzte Punkt in dieser Linie ist eine Demokratie.

Willkür und Folter nicht als ein peinlicher Betriebsunfall, sondern als vertretbare Mittel ihrer Verteidigung.

Man sollte Agamben danken, dass er die Mär von der  Unvereinbarkeit von Rechtsstaat und Unrecht widerlegen hilft.

Dabei ist an der Genauigkeit seiner Herleitungen aus vielen Richtungen schon viel Kritik geübt worden.

Eine große Lücke wird aber von allen verschwiegen.

Unrecht zur Verteidigung des Rechtsstaates geht bei Agamben immer von einer verselbständigten, die Gesetzgebung beherrschenden Exekutive aus.

Im Fallbeispiel erheben sich George W. Bush und seine Regierung über den Rechtsstaat  USA und schaffen zu seinem Schutz den Ausnahmezustand Guantanamo.

Unterschwellig öffnet dieses Model aber jedem demokratisch regierten Bürger eine letzte Hintertür aus der eigenen Mitverantwortung für das Handeln seines Staates.
Wenn seine Regierung eigenmächtig und ohne sein Mandat die Gesetze beugt, ist er im schlimmsten Fall nur ihr Mitläufer, im bequemsten Fall ihr Opfer.

So durften schon viele Bürger angesichts des im Namen ihres Rechtsstaates, demokratisch oder nicht, verübten Unrechts vor sich und der Welt gute Menschen bleiben.

Ist es wirklich so einfach?

Nicht wenn man mit einbezieht, dass Regierungen, demokratisch oder nicht, ihren Herrschaftsanspruch immer schon mit mehr rechtfertigen mussten, als der bloßen Befolgung eigener Gesetze, oder der Erfüllung eines an der Wahlurne ausgesprochenen Auftrags.

In seinem 2004 veröffentlichten Buch “Kelten, Hexen, Holocaust: Menschenopfer in Deutschland” belegt der Historiker Franz Wegener eine ebenso “durchgängige Verbindungslinie zwischen den Brandopfern der vorchristlichen Völker, den zehntausendfachen Verbrennungen von Menschen während der Hexenjagden der frühen Neuzeit und den Verbrennungen der NS-Opfer in den Krematorien der Konzentrationslager”.




Spannend für die Auseinandersetzung mit Agambens Thesen wird es, wenn Wegener darlegt, dass die Hexenverbrennungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit keineswegs gänzlich durch einen überzogenen Missionseifer der römisch-katholischen Kirche angetrieben wurden, die, mit Agambens Begriffen beschrieben, diese Verfolgungen als de facto Staatsmacht verwaltete und ausführte.

Vielmehr handelte es sich nach Wegener um “Menschenopferungen” in der Überlieferung “volksmagischer Praktiken zur Krisenbewältigung”; Menschenopferungen die es, so Wegener, “ohne den ausdrücklichen Wunsch breiter Bevölkerungsanteile “von unten” in der realisierten Brutalität wohl nie gegeben hätte.




Ist die Kontinuität von Menschenopferungen zwischen den alten Religionen und mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen erst einmal hergestellt, liegt die Frage nach einer Fotrsetzung dieser Kontinuitätslinie dieser Form von Krisenbewältigung auch für die Zeit des Nationalsozialismus mit seinen Millionen von Toten nahe.”

Wegener zieht diese Verbindung umso bruchloser, je mehr er den Nationalsozialismus hier wie in anderen seiner Bücher als gnostisch bewegte, politische Religion erklärt.



Doch wie weit ist dann noch der Zug dieser Linie bis nach Guantanamo?

Wenn es in genotypischen und phänotypischen Theokratien aller Epochen staatliches Unrecht nie gegen den gesellschaftlichen Druck von unten geben konnte, sondern nur als sein kontrolliertes Ventil; dürfen wir Agamben dann noch abnehmen, dass die Regierung von “god ‘s own country” den “war against terror” gegen die Mehrheit ihres Wahlvolks durchsetzen konnte?

Nach Wegener wäre George W. Bush stattdessen der Vollstrecker eines unterschwelligen, auch religiös bewegten Volkswillens.



Bei Wegener wie bei Agamben rechtfertigen Staaten das von ihnen verwaltete und verrichtete Unrecht ausdrücklich oder verschlüsselt mit der notwendigen Bewahrung ihrer Rechtsordnungen. Zwischen den Beweisführungen dieser beiden Autoren wird es für den Traum vom Demokraten, vom guten Menschen eng. Können wir ihn weiter träumen und uns dabei immer noch ehrlich im Spiegel ansehen?

Schützt uns das weltliche Bekenntnis der Demokratie wirklich schon allein vor allem Unrecht aus Überzeugung?

Schon der Blick auf den großen Terror der französischen Revolution macht zweifeln.



Welcher Glaube, welche Überzeugung macht mich zu Mittäter?


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