Wie versprochen, mit Verzögerung, meine Eindrücke der letzten Tage in Berlin, auf unserer großen Radtour 2006. Mein nächster Eintrag wird wieder aus Mainz kommen.
Dirk und ich haben uns einen Teil des Verlaufs der Berliner Mauer erradelt. Wir standen am Grenzübergang Bornholmer Straße. Als Folge eines Lesefehlers des ZK-Mitglieds Günter Schabowski begann hier am 9. November 1989 die Öffnung und letztlich der Fall der Mauer. Noch 4 Jahre vorher war die evangelische Versöhnungs-Kirche auf Befehl der SED-Führung gesprengt worden. Heute führt an beiden Orten ein Radweg vorbei. Ein Radweg an der Mauer.
Dirk und ich gehören zu einer Generation, die mit der real existierenden Mauer, mit einem real existierenden, sozialistischen Staat dahinter, aufgewachsen ist. Ich habe in diesem Staat sogar real existierenden Urlaub gemacht. Deutschland war geteilt und würde es bleiben, das schien ebenso traurig wie sicher. Dirk und ich sind zu alt, als dass wir diese gefühlte Gewissheit in unserer Lebenszeit noch vergessen könnten, ebenso wenig wie unseren Schock, als die Mauer dann doch fiel.
Die Generationen, mit denen wir heute leben, bauen Radwege durch die Mahnmale der Erinnerung und kommende Generationen werden zu diesen Erinnerungen keinen stärkeren Bezug aufbauen können, als wir jetzt zu den Gedenkstätten des 1. Weltkrieges noch übrig haben. Ein kollektives Gedächtnis abstrahiert und vergißt erlebte Erinnerung. Kein kollektives Gedächtnis kann über Generationen hinweg durch abstrahierte Erinnerung dauerhaft geprägt werden.
Das Holocaust Mahnmal in Berlin ist eine Abstraktion der Erinnerung erlebten, millionenfachen Grauens und soll das Grauen über diese Abstrakion jüngeren Generationen vermitteln. Auch wenn das Stehlenfeld als architektonisches Kunstwerk gelungen ist, der in ihm ausgedrückte Anspruch scheitert. Da ist nur eine Abstraktion ohne Bezugspunkt. Eine Attraktion vor der sich unschuldig ausgelassene Schulklassen lachend fotographieren lassen, wie vor dem neusten Hard Rock Café . Ein Schicksal, dass dem New Yorker "Ground Zero" auch bevorsteht. Im Gegensatz dazu, schafft eine über einen Lampenschirm gespannte Menschenhaut, ausgestellt in der Gedenkstätte des KZ Ravensbrück, durch bloße Anschauung einen eindeutigen Bezug zum Leid des Holocaust. Sofort. Immer. Für jede Generation.
Kein Versuch einer Überleitung. Die Begehung der Kuppel des Bundestagsgebäudes schafft das Gefühl der entspannten Inbesitznahme der Macht durch den Souverän Volk. Aber schützt dieses Ritual nicht viel mehr die Macht der Volksvertreter, indem es den Souverän an ihnen vorbei, in luftige Höhe entrückt? Erschreckend, die monumentale Leere und Verlassenheit des Regierungsviertels, die Monströsität des Kanzleramts. "Erleuchtete Stadt", Brasilia mitten im lebendigen Berlin. So sehr Berlin im gefühlten Manhattan des Potsdamer Platzes und im Charisma der Kieze mit roher, urbaner Vitalität pulst; hier ist es nur Hünengrab der Macht.
IFA 2006. Phillips baut die besten HDTV-Bildschirme. Nein, Samsung. Nein, Loewe. Blue-Ray Disc löst DVD ab. Nein, HD-DVD. Nein, Blue Ray. Möchten Sie ein kostenloses Mouse-Pad? Nein, ich hätte lieber eine Überraschung. Dirk sagt, uns wurde nur der Elektronik-Schrott von morgen vorgeführt. Gut, Schrott vielleicht erst übermorgen, aber morgen sicher schon Auslaufmodelle. Weder Blue Ray Disc, noch HD-DVD wird sich gegen das Internet als Speichermedium durchsetzen.
Mein Bruder Bernard und ich. Gemeinsam als Produkte des selben Vaters. Getrennt als Produkte der eigenen Verantwortung. Spiegelverkehrte Charaktere und doch nicht minder Spiegelungen des anderen. Auf der einen Seite, absolute Ratio mit dem ebenso ignoranten, wie intoleranten Anspruch auf objektive Sicht der Welt. Auf der anderen Seite, Ratio als Mittel zum Zweck eines absoluten Triebes, immer in der Gewissheit, dass Objektivität nicht möglich ist und nur Zweifel bleibt.
Auf beiden Seiten aggressive Gier nach Leben, Gier nach Neuem, Gier nach Wahrhaftigkeit. Und ein böses Grinsen für alle Lügner.
Gespräche mit meinem Bruder sind lohnende Anstrengungen.
Bernard hält mir meinen, wie seinen Spiegel vor. Er bietet mir klare Stanpunkte, die ich ebenso annehmen, wie mich dagegen stemmen kann. Mein Bruder macht mir meine letzten Konsequenzen klar. Mein Bruder bringt mich weiter. Danke für Deine Zeit, Bernard! Gut, dass es Dich gibt.
Berlin hat meinen Kopf wiederbelebt, die Tour um die mecklenburgische Seenplatte, meine Muskeln. Ich habe mal wieder den schweren Weg zu mir zurück überwunden. Genauso sicher, werde ich mich wieder von mir selbst entfernen müssen. Aber der nächste Urlaub kommt bestimmt.
Wow Phantastisch !!!
AntwortenLöschenIch liebe es Deine Reiseeindrücke zu lesen. Dieser Urlaub hat Dir offenbar körperlich wie seelisch gut getan ^__^ und das Kapitel über Deinen Bruder hat mich richtig tief bewegt.
So langsm mutiere ich zum Habel-Leses-Fan und das mit gutem Grund !
Weiter so und auf ein baldiges Wiedersehen in Natura.
Bis dahin alle Gute
Gruß
Marion