25 September 2010

Die Wiederbelebung der Schrift mit den Mitteln ihrer Ermordung – Ein Paradoxon?



Die Würdigung oder Beleidigung elektronischer Medien als Totengräber der kulturellen Leistung des kreativen Schreibens, ja der Kultur an sich, hat inzwischen eine lange und für manchen Autoren wohl auch einträgliche Tradition.

Scheinbar wird hier eine Saite aus dem Dickicht allgemein geteilter Verlustängste angeschlagen, die besonders laut klingt.
Ist das der Grund warum gerade dieser Text der am meisten nachgefragte Beitrag seit erstem Erscheinen dieses Weblogs ist? Untersucht man die diesem Ergebnis zu Grunde liegenden Internet-Suchanfragen, wird zumindest eines mit ihnen belegbar: die vielen gemeinsame Sehnsucht nach der schönen Schrift.

Selbst diese Sehnsucht ist für sich betrachtet schon eine, für unsere vordergründig doch so sehr auf die exakte Vernunft ausgerichtete Kultur, überraschend romantische Reaktion auf einen als tatsächlich empfundenen Verlust.

Was ist das Verlorene, das hier zurück ersehnt wird und warum schmerzt der Verlust so? Und wer sehnt hier, wer empfindet Verlust?

Ein immer kleiner, weil immer älter werdender Teil der Menschheit erinnert sich an eine Zeit in der Text mehr war als ein kulturelles Produkt, Schreiben und Lesen mehr waren als kulturelle Techniken zu seiner Produktion, seiner Verwertung.

Nimmt man bewusst aus der Betrachtung, dass die ersten gedachten Räume menschlicher Geschichte von der ersten, abstrakten Kunstform, der Musik geschaffen wurden, darf man folgendes vermuten:

Im Spannungsfeld der Wechselwirkungen von Schreibenden, Texten und Lesern entstanden frühe virtuelle Orte und Räume, alternative Zeitläufe, lange bevor der Telegraph und viel später und gründlicher das Internet die Grenzen von Raum und Zeit zerstörten.

Diese ersten Cyberspaces konnten von jedem Einzelnen als eigene Schöpfungen empfunden werden, eigene Orte der Zuflucht, eigene Räume der Freiheit, der eigenen Schaffensmacht. Es waren virtuelle, persönliche und private Welten.

Das Mitteilen dieser Welten an andere war immer bewusst, selbst bestimmt und begrenzt.

In der Handschrift konnte der Schreibende seine virtuelle Schöpfung buchstäblich in Text fassen und damit die Befriedung des bildenden Künstlers empfinden.

Texte waren für Schreibende wie Leser Punkte des Rückzugs in sich selbst, der Konzentration, der Meditation über die Innenwelten, die eigenen Schöpfungen. Im Text war der Mensch bei sich.

Dass gerade die Schönschrift heute als romantisches Idyll dieser Zeit verehrt wird, liegt am schmerzlichen Bewusstsein,dass sie wohl das erste Opfer der folgenden mechanischen, heute elektronischen Schreibmaschinen war.

Erst brannte die Corona im Namen von Geschwindigkeit und Gewinnmaximierung alle schöpferischen Brücken zwischen Schreibenden und Bildhauern nieder. Erst sie entfremdete den Schreibenden vom Produkt seiner Arbeit und lies ihn so als bloßen Schriftsteller zurück.

Dann führte das Internet seine lingua franca des Hypertext ein.

Und schon mit seinem Namen sprengte der Übertext alle Grenzen des Eigenen, Persönlichen und Privaten, die Schreibende und Leser je um ihre virtuellen Texträume gezogen haben mochten.

Jetzt ist Text auch außerhalb des Internets immer und überall Übertext und Übertext ist immer und überall mit allem in und außerhalb von ihm vernetzt. Aus den Orten der Zuflucht sind Schlachtfelder multimedialen Trommelfeuers geworden. Nie wieder werden wir in Texträumen mit uns allein bei uns sein. Nie mehr werden diese Räume uns gehören.

Auch dieses Paradies ist verloren.

Und nun geschieht das Paradoxon und Matthew Battles benennt es: Eine Generation, die in die Zerstörung hinein geboren wurde, die an den Techniken dieser Zerstörung zur Perfektion erwachsen ist; ausgerechnet diese Generation wurde von ihren Eltern mit dem Mem der Sehnsucht nach eben diesem verlorenen Paradies infiziert.

Und so sucht man nun das Idyll der Schrift mit den Techniken zurück zu holen, mit denen man es vernichtete.

Writer, CreaWriter und TextRoom führen die Schreibenden, Kindle und iBooks die Leser in die selbe Richtung: Zurück zum Text. Zurück zum Selbst. Zurück zur Natur?

Wie mächtig dieser Drang ist, zeigt sich daran, dass ihm über alle Plattformen hinweg nachgegeben wird.

Aber ist dieses leuchtende Ziel erreichbar? Können wir heimkehren in unsere Paradiese unserer Texte?

Oder schmücken wir wieder einmal nur unsere neuen Cyberspaces mit den Erinnerungen der alten, geborgen wie in Bunkern, während draußen noch die Erde brennt?

Was ist der dritte Weg?

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