05 September 2010

„Null Blog“ gegen „Digital Natives“? - ein memetischer Generationskonflikt


Es schafft keinen Mehrwert, dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ Fehler in den Argumentationsketten seiner Berichterstattung nachzuweisen. Das ist zu alltäglich und zu leicht.

Interessant wird es erst, wenn man über die Untersuchung der Fehler des Spiegels zu anderen Fragen kommt, die in ihrer Bedeutung weit über das hinausgehen, was ursprünglich Thema des jeweiligen Artikels war.



Ein Fallbeispiel

Der Spiegel-Autor Manfred Dworschak entlarvt hier, wie Prensky, Tapscott und andere Einzelerscheinungen wie Amber MacArthur, Kevin Rose und Mark Zuckerberg mehr oder weniger willkürlich pars pro toto hoch rechnen und entlang ihrer Logik, eine globale Generation der „Digital Natives“ herbei schreiben. Die zugeschriebenen Merkmale dieser Generation: Ihre Jugend und ihr ständiges, ununterbrochenes  Leben und Arbeiten im Netz und ausschließlich mit den Mitteln des Netzes.

Verkürzt auf einen logischen Dreisatz:
Kevin Rose ist ein Digital Native.
Kevin Rose ist 33 Jahre alt.
Alle von dreizehn bis dreiunddreißig Jährigen sind Digital Natives.

In dieser Einfachheit ebenso makellos schön, wie offensichtlich falsch.

Würde man jedem Jugendlichen der Welt sein Twitter-Konto geben, unsere Chance auf eine zweite Amber
McArthur würde zwar erheblich steigen, dadurch aber noch lange keine Gewissheit.

So weit, so treffend beobachtet. Ein guter Beitrag, würde es bei dieser Entlarvung eines zur Massenbewegung überhöhten, soziologischen Gruppenbegriffs belassen.

Aber ach, das hätte dem Chefredakteur wohl nicht gereicht? In langer Tradition des Spiegels, gehört jedes Objekt nicht nur kritisiert, es muss vernichtet werden. Immer, unter allen Umständen.

Deshalb geht es in diesem Spiegel-Beitrag nicht nur darum, den Anspruch der „Digital Natives“ zu widerlegen, eine Massenbewegung zu sein.
Es geht hier um die Umdeutung und Verleugnung des Begriffs zur kulturellen Bedeutungslosigkeit im Besonderen. Es geht um die Verleugnung kreativer Produktivität im Internet im Allgemeinen.

Wie wird das konstruiert?

Die Grundlage der Argumentation bilden soziologische Statistiken über das Nutzungsverhalten von Jugendlichen im Internet. Die Zahlen beweisen, dass die Digital Natives tatsächlich eine gesellschaftliche Minderheit sind. Kaum einer der befragten Jugendlichen nutzt das Internet für kreatives Arbeiten. Der Spiegel-Autor will mit den selben Zahlen zusätzlich beweisen, dass diese Minderheit in der Gesellschaft wirkungslos bleibt. Aber eben diesen Beleg geben diese Zahlen nicht her.
Wann immer er sich in seiner Begründung hinter die Statistiken zurück zieht, was bleibt, sind seine nicht belegbaren persönlichen Wertungen.

Davon gibt es viele.

Zunächst stellt Dworschak die mittlerweile eingetretene Alltäglichkeit des Internets in allen Lebensbereichen fest. Bei Tapscott und Prensky war es noch ein jenseitig virtuelles Utopia, exklusiv bevölkert und beherrscht von den Digital Natives. Angekommen im Hier und Jetzt ist es ein profanes Multifunktionswerkzeug, wertneutrales Mittel zu jedem denkbaren Zweck.

 Marshall McLuhan muss neu geschrieben werden. Wenn er es heute noch könnte, er würde das wahrscheinlich selbst erledigen: The medium is becomming less and less the message and more and more its... well, medium.

Auch diese neue Alltäglichkeit des Internets bleibt nicht verschont von ihrer Abwertung. Wenn das Medium selbst nicht mehr die Botschaft ist, wenn der Zweck des Mittels austauschbar ist, kann es dann noch geheiligt werden?

Der Spiegel-Autor entscheidet, ohne das auch nur einmal klar zu sagen, für Nein. Er setzt das Fehlen von Heiligkeit mit Wertlosigkeit gleich. Deshalb schreibt er gegen die Austauschbarkeit der Zwecke an, errichtet Wertefronten aus dem Nichts, erhebt Blogs und Twitter als Medien kreativer Produktivität über Facebook und Youtube als Medien des sinnfreien Konsums und der sozialen Kontaktpflege.

Letztlich wird die Argumentation so kurzgeschlossen, der selbe Fehler wiederholt, der eben noch kritisiert wurde:
So wie Prensky und Trapscott willkürlich von der tatsächlichen Wirkmacht einer Minderheit auf die kreative Produktivität einer ganzen Generation folgern, folgert Dworschak ebenso willkürlich vom tatsächlichen Fehlen einer kreativ produktiven Generation auf die Leugnung der wirkmächtigen Minderheit.
So wie Trapscott und Prensky sich ihre Digital Natives selbst herbei schreiben, schreibt sich der Spiegel-Autor seine „Generation Null Blog“ herbei. Von den Tatsachen unabhängig schreiben sie alle.

Wenn Dworschak von ihm befragte deutsche Gymnasiasten als seine Belastungszeugen vorführt, gelingt es ihm damit nur, seinen Zahlen menschliche Gesichter zu geben. Ja, Jetlir, Tom und ihre Freunde gehören dem Begriff nach eindeutig nicht zu der Minderheit „Digital Natives“. Ja, sie sind Teil der statistisch bewiesenen, gegensätzlichen Mehrheit. Aber auch da hinein lässt sich nichts deuten, dass über die tatsächlichen Aussagen der Zahlen hinaus geht. Es lässt sich nicht daraus her leiten, wie stark oder schwach Jetlir und seine Mehrheit ihre Generation prägen. Es lässt sich nicht daraus her leiten, wie schwach oder stark die „Digital Natives“ dies tun.

Die Logik des Spiegel-Autors ist genauso plump verkürzt, wie die seiner Angeklagten:

Jetlir ist kein „Digital Native“.
Jetlir gehört zu 95% aller statistisch erfassten Jugendlichen.
„Digital Natives“ sind nicht relevant.

Beide Ansätze ein und die selbe Generation zu beschreiben, scheitern gleichermaßen.

Was sind die Tatsachen?

Blogs, Twitter, Youtube und andere, sind allesamt gleichrangige Formen der sozialen Vernetzung. Sie schließen sich nicht aus, ersetzen einander nicht, sondern ergänzen sich.

Wie viele oder wenige produktiv die Ausdrucksformen von Blogs und Twitter nutzen oder an kollektiven Projekten wie Wikipedia zusammen arbeiten, sagt noch nichts über die Wirkung ihrer Beiträge aus.

Mancher zeitgeistige Massentrend blieb im Rückblick ohne nachhaltige Wirkung auf die gesamte Gesellschaft.

Im Gegensatz dazu ist es kleinsten  Subkulturen, teils sogar einzelnen Personen mit ihren hohen Graden an Identifikation und Organisation und ihren klar und eindeutig formulierten Ideen schon oft gelungen, nicht nur ihre Generation, sondern auch die nachfolgenden bis ins heute hinein zu prägen.

Die romantische Erinnerung an 68er und Flower Power als Massenbewegungen ist beispielhaft ein bereits widerlegter kulturhistorischer Irrtum.
Die gefühlte Wirklichkeit erinnert, dass jeder junge Akademiker um 1974 linker Kommunarde und/oder RAF-Sympathisant war. Wäre dies die tatsächliche Wirklichkeit, möglicherweise hätte Deutschland heute eine andere Staatsform. Zumindest hätten die bürgerlichen Parteien noch mehr Wählerschwund zu beklagen, als es so schon der Fall ist.

Tatsächlich waren die Frauen und Männer, die die 68er geprägt haben, im zahlenmäßigen Vergleich mit der Mehrheit ihrer Generation eine unbedeutend kleine Subkultur. Ihre Motivation, die Bindungskraft ihres inneren Gruppendrucks, ihre virtuose Beherrschung der damals aktuellen Informationsmedien, all das machte sie trotzdem nachhaltig wirkmächtiger als alle anderen ihrer Zeit. Auch wenn damals der gesellschaftliche Trend Revolution ablehnte und am Status Quo festhielt; die umfassende soziale Wandlung durch die 68er ist bis heute nicht abgeschlossen.

Was prägt also eine Generation? Das ist die wichtigere Frage, die keiner der Autoren stellt. Ihre Minderheiten? Ihre Mehrheiten? Nein. Eine Generation wird geprägt durch die Ideen, die in ihrer Zeit um die kulturelle Dominanz konkurrieren.

Mit welchen wissenschaftlichen Mitteln lassen sich die Mechanismen dieser Auslese der Ideen korrekt beschreiben? Mit den willkürlichen Hochrechnungen von  Prensky und Trapscott? Mit der ebenso willkürlichen statistischen Interpretation von Dworschak? Nein.

Ohne die Begriffe der Memetik sind solche Prozesse und ihre Wirkungen nicht korrekt bestimmbar, geschweige begreifbar.

Alle drei Autoren scheitern hier gemeinsam, weil ihr Denken mehr oder minder in den engen Grenzen rein quantitativer Dimensionen gefangen bleibt.

Der Spiegel-Autor ignoriert die memetische Ebene dabei vollkommen. Man mag Trapscott und Prensky noch zu Gute halten, dass die  Wirkmacht der „Digital Natives“ zumindest am Ausgangspunkt ihrer Argumentation steht. Letztlich vertrauen sie aber nicht auf die Macht ihrer Minderheit, schreiben sie überflüssig zur Mehrheit hoch, fallen hinter die Möglichkeiten der Memetik zurück und machen ihr Model so  überhaupt erst angreifbar.

Mit etwas Glück wird ihnen die Zukunft beweisen, wie unnötig ihr Kunstgriff war, weil die Meme von weniger als fünf Prozent aller Träger doch alle Konkurrenz als prägende Kräfte einer Generation überlebt haben werden.

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