27 August 2011

Marshall McLuhan – Prophet ohne Gegenwart


Man hat immer wieder von ihnen gelesen, den im eigenen Land nichts geltenden Propheten. Ihre Geschichten sind Archetypen im kollektiven Bewusstsein der Menschheit.

 Sie erfüllen viele Zwecke im zwischenmenschlichen Zusammenhang ihrer Gesellschaften. Es sind die, die das anderen verborgene, undenkbare, unaussprechliche, erkennen, benennen und erklären. 

Das macht sie zu den Außenseitern, den Fremdkörpern im inneren Wirken ihrer Gruppen. Ihr Dasein ist der Tabubruch, die Antworten der anderen darauf, Leugnen, Verurteilung, irgendwann vielleicht Anerkennung und hoffentlich die Entwicklung aller zu weiteren Möglichkeiten eines besseren Miteinanders.

 Damit der Prophet als Zündung dieser Kettenreaktion wirken kann, müssen das Tabu wie dessen Bruch mit Bezug auf die Sprache, die Meme ihrer Gegenwart benannt und erklärt werden können.

 Was aber, wenn der Tabubruch den der Prophet benennt, bereits vor Jahrtausenden begonnen hat? 

 Was, wenn die gegenwärtige Gesellschaft zu der der Prophet spricht, in ihren Memen, ihrer Sprache, ihrem Handeln, schon so sehr vom Fortwirken des Tabubruchs bestimmt ist, dass sie weder für ihn, noch für das Tabu einen Namen, ein Bewusstsein hat? 

 Was, wenn die Zukunft, die der Prophet beschreibt, so sehr jenseits der Meme, Begriffe und Bilder seiner Gegenwart liegt, dass es für seine Zuhörer unmöglich ist ihre Zukunft darin zu ahnen?
 Im Spannungsfeld zwischen diesen Fragen verläuft das Gespräch zwischen Marshall McLuhan und dem Publikum seiner Zeit, wie unserer Zeit, sprachlos, verständnislos, ziellos.

 Die Prophezeihungen des Marshall McLuhan:

 Elektrische Schaltkreise sind Erweiterungen unseres Nervensystems. Indem Medien die Umwelt verändern, rufen sie einzigartige Größenordnungen sinnlicher Wahrnehmung in uns hervor.Die Erweiterung irgend eines Sinnes verändert unser Denken und Handeln, unsere Wahrnehmung der Welt. Mit der Veränderung dieser Größenordnungen ändert sich der Mensch. 

 Die neue gegenseitige, elektronische Abhängigkeit erschafft die Welt neu im Bild des globalen Dorfs. 

 Indem durch die elektrische Erweiterung unseres Nervensystems alle Menschen mit allen Menschen in Bezug gesetzt werden, macht die neue Technologie aus der primitiven Gesellschaftsform (des Stammes) einen allgemeinen Grundsatz, der alle anderen Formen begräbt. 

 Durch die elektronische Erweiterung seines Nervensystems in eine totale Informationsumwelt, verbindet der Mensch Kunst und Natur. 

 Wir formen unsere Werkzeuge und danach formen unsere Werkzeuge uns.
 Umwelten überarbeiten uns und erschaffen uns neu. Der Mensch ist Inhalt und Botschaft des Mediums. Der elektronische Mensch muss die Wirkungen der Welt die er erschaffen hat kennen. 

 Das Medium ist die Botschaft. 

 Der Mensch wird zum Fortpflanzungsorgan der Maschinen, wie die Biene für die Pflanzen. Er ermöglicht es ihnen, sich zu vermehren und in immer neue Formen zu entwickeln. Die Maschinen belohnen seine Liebe mit der beschleunigten Erfüllung seiner Wünsche, namentlich der Mehrung seines Reichtums. 

 Obwohl sie in Stammesgesellschaften bedeutungslos sind, haben Zahlen und Statistiken in schriftbegabten Gesellschaften den mystischen und magischen Status von Unfehlbarkeit angenommen. 

 Wir schauen auf unsere Gegenwart durch einen Rückspiegel. Wir marschieren rückwärts in die Zukunft.

Turn on, tune in, drop out!

Der Leser muss bedenken, dass diese Texte zwischen 1951 und 1970 veröffentlicht wurden, um ihre Wirkung auf das Publikum dieser Zeit verstehen zu können.

Der Personal Computer war nicht mehr als eine Ahnung, das Internet, das aus McLuhans Text hervor schien, reines Science-Fiction.

Die Massenmedien dieser Gegenwart waren immer noch Fernsehen, Radio und Telefon.

Sie hatten das Leben der Menschen in seiner Entwicklung der vorangegangenen fünfzig Jahre aber schon so umfassend und gründlich bestimmt und gestaltet, dass die gelebte Erinnerung an eine Vergangenheit ohne sie zu schwach war, als dass es noch ein Bewusstsein für das Ausmaß und die Schwere der durch sie angetriebenen und andauernden Veränderungen geben konnte.

Aus diesem Blickwinkel ohne Bezug zu der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die der Autor beschreibt, konnten McLuhens Texte gelesen werden, wie die Visionen eines modernen Nostradamus, die poetischen Drohungen eines Friedrich Nietzsche, Die Verheißungen eines Joachim von Fiore oder Pierre Teilhard de Chardin.

So verwundert es nicht mehr, dass McLuhan seinen Erfolg in verkauften Auflagen letztendlich dem Unglück verdankt, heute wie damals, immer wieder anders, nie ganz und damit immer falsch verstanden zu werden.

Die erste Leserschaft, die seine Texte zur eigenen Rechtfertigung deutete, war die US-amerikanische Gegenkultur der 1960er und die aus ihr folgende New-Age-Bewegung.

Timothy Leary lieh sich McLuhans „Turn on, tune in, drop out“ zum Schlachtruf. 

Seine Analyse der Abhängigkeiten der Medien vom industriell-militärischen Komplex wurde auf eine griffige Kapitalismuskritik verkürzt. 

Die Rückkehr der primitiven Stammesgesellschaft im globalen Dorf mit den alten Traditionen der mündlichen Überlieferung wurde zur frohen Botschaft erhoben. 

Und da die Hippies vor dem Macintosh mit McLuhans Vorhersagen über die weitere Entwicklung und Wirkung elektronischer Medien ebenso wenig anfangen konnten, wie alle anderen, blieben Drogen wie LSD die einzigen „Technologien“ ihrer Wahl zur Erweiterung des Nervensystems, der sinnlichen Wahrnehmung. 

Timothy Leary kam erst zum Ende seines Lebens zu der Überzeugung, dass der PC das "LSD der 90er" sei. Hatte er da erst seinen McLuhan endlich gelesen?

Am Ende seines Ruhms zu Lebzeiten, sah sich der ebenso tief gläubige wie vernunftsbestimmte Wertkonservative McLuhan verehrt und gefeiert von Sinn suchenden Blumenkindern, verloren zwischen Drogenrausch und esoterischen Erleuchtungsversprechen. Er wird es mit der selben distanziert faszinierten Neugier beobachtet haben, wie alles andere.

2011, 31 Jahre nach McLuhans Tod, 100 Jahre nach seinem Geburtstag, sitzen die Blumenkinder und ihre Enkel in den Chef-Etagen der IT- und Medien-Industrie und bauen an den nächsten Technologien, die unsere Sinne erweitern, unsere Wahrnehmung der Welt verändern.

Ihr Verständnis McLuhens ist ein anderes, aber es ist nicht vollständiger, nicht besser geworden.

Liest man die heutigen Pressemitteilungen von Microsoft, Apple und Google, tönt eine neue frohe Botschaft zwischen den Zeilen hervor:

Wir haben verstanden!

Wir sind in der Zukunft angekommen, die Marshall McLuhan vorhersagte!

Das Ziel ist erreicht!

Sie könnten nicht weiter von der Wirklichkeit entfernt sein. Es ist dabei nur ein Makel, dass McLuhans Werk heute genauso einseitig auf seine technologischen Ebenen reduziert wird, wie es vorher auf seine transzendenten und spirituellen Aspekte verkürzt wurde. Man muss Größen wie WIRED und Roger Ebert hoch anrechnen, dass es die einen zumindest ahnen, der andere es eindeutig erkennt.

Man kann McLuhan zu keiner Zeit verstehen, wenn man nicht zuallererst begreift, dass sein Blick auf unsere Entwicklung Grenzen akademischer Disziplinen ebenso in alle Richtungen sprengt, wie die zeitlichen Grenzen der eigenen Erfahrung.
McLuhan setzt Jahrtausende in unserer Vergangenheit an, wenn er beschreibt, wie primitive Stammesgesellschaften erstmals mit ihren Traditionen der mündlichen Überlieferung brachen und fortan Information in Schrift verschlüsselt übertrugen.

Er hält fest, wie dieser Bruch bis in unsere Neuzeit auf uns wirkt, uns verändert. 

Am Aufkommen der elektronischen Medien macht er schließlich den zweiten historischen Bruch fest, eine Rückkehr zu uralten Traditionen mündlicher Überlieferung, das elektronische Dorf als Aufbruch aus der Individual-Gesellschaft zurück in den einen, globalen Stamm Menschheit.

Aber für McLuhan fängt diese Phase schon mit dem ersten Radio-Sender an und ist mit dem Smartphone noch lange nicht an ihrem Ende, solange wir auch nur einen Buchstaben tippen, um uns zu verständigen.

Sein Blick in unsere Zukunft reicht mindestens genauso weit, wie in unsere Vergangenheit.

Und er hat als erster darauf hingewiesen, dass es nicht der Blick eines Wissenden, sondern unsicher Staunenden ist.

Denn nach ihm kann jeder Mensch seine Gegenwart nur im Rückspiegel betrachten, sie nur in den Memen, Bildern und Begriffen benennen, die ihm aus seiner Vergangenheit geblieben sind.

Gegenwart kann also immer erst verstanden werden, nachdem sie Vergangenheit wurde.

Und wir stehen immer mit dem Rücken zur Zukunft.

Paradoxer Weise, sind wir durch unser Missverstehen des einsamen Propheten Marshall McLuhan schon sehr weit gekommen.

Wie weit werden wir kommen, wenn das Ungeheuerliche, dass er uns verkündet, unsere Vergangenheit und damit begreifbar ist?

Zu seinem 200. Geburtstag?

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