04 Dezember 2011

Meme des Wahnsinns - Anmerkungen zu “Jerusalem – New York – Oslo, das ist nicht unser Krieg."



Franz Wegener hat mir neben Erik Davis und WIRED einen der ersten Anstöße gegeben, mich mit den Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Technik und Religion zu beschäftigen.

Er half mir, mein Thema zu finden und dran zu bleiben. Er ermutigte mich, meine Beobachtungen festzuhalten.

Als klar wurde, dass mein Atem für das eine große Buch zu kurz ist, ermunterte er mich, mit diesem Blog zu meinem Thema auch meiner Form zu folgen.

Er hat mit "Gnosis in High Tech und Science-Fiction" das zum Thema beigetragen, das mein Blog nicht kann.

Nun bewegt ihn ein Beitrag von mir zu einer Antwort und ihre Veröffentlichung soll an Googles Grenze von 200 Zeichen für Kommentare scheitern? Nicht mit mir.



Franz Wegener
We are the seed of a new breed: „Dexter“ und Anders Behring BreivikOhne gerichtlichen Gutachten vorgreifen zu wollen: Aber Anders Behring Breivik ist meines laienhaften Erachtens nach schlicht geistesgestört. Die Islamkritik diente ihm lediglich als Fassade, um den hinter ihr lauernden Wahnsinn zu kaschieren. Dies mache ich daran fest, dass Breivik als 32-Jähriger noch bei seiner Mutter wohnte und dass er sich mit Fantasieuniformen schmückte. Politische Attentäter kleiden sich für gewöhnlich nicht mit Fantasieuniformen und agieren aus dem Kinderzimmer heraus.Um seiner tiefsitzenden Mordlust eine funktionierende Fassade zu geben, hätte er sich wohl näher an die Inhalte der von ihm so überaus geschätzten US-Serie „Dexter“ anlehnen müssen. Die US-Serie wird seit 2006 produziert und derzeit in der sechsten Staffel ausgestrahlt. Der Protagonist Dexter ist ein sympathischer junger Mann, erfolgreicher Gerichtsmediziner und – Serienmörder. Der legt sich, um seine gefühlskalte Persönlichkeit nach außen zu tarnen, am Anfang der Serie eine Scheinfamilie zu: Eine Freundin und zwei Kinder, die sie mit in die Beziehung bringt. Dexter zeigt nicht nur, wie ein Serienmörder tickt, er macht auch vor, wie das am besten nach außen zu verbergen ist.Apropos Dexter: Während sich derweil selbst Henryk M. Broder neben anderen Islamkritikern den dummen Anwurf ideologischer Brandstifterei gefallen lassen muss, da Breivik auch ihn in seinem 1437-seitigen Manifest „A European Declaration of Independence“ erwähnt, finden die von Breivik an verschiedenen Stellen lobend erwähnten Fernsehproduktionen in Motivanalysen nur gelegentlich Erwähnung. Dabei lohnt hier ein genauer Blick.Auf Seite 1408 seines hauptsächlich aus islamkritischen Internet-Blogs zusammenkopierten Manifestes (so ist auch das Broder-Zitat von Blogger „Fjordman“ kopiert) nennt er seine Lieblingsserien, darunter auch Dexter:
„Watching Spartacus - Blood & Sand, a brilliant series:-). It's my favourite one, in addition to Rome, Battlestar Galactica, Caprica and Stargate Universe!<3. The Shield, Dexter, Sleeper Cell, Vampire Diaries and True Blood are good as well. All the series adhere to the multiculti ideology but such is life for the time being.“
„Watching Spartacus - Blood & Sand, a brilliant series:-). It's my favourite one, in addition to Rome, Battlestar Galactica, Caprica and Stargate Universe!<3. The Shield, Dexter, Sleeper Cell, Vampire Diaries and True Blood are good as well. All the series adhere to the multiculti ideology but such is life for the time being.“Und unter den auf seiner ehemaligen Facebook-Seite genannten Fernsehproduktionen befindet sich Dexter nach Caprica, True Blood und Stargate Universe auf Platz 4. Auf Seite 1369 des Manifestes findet sich eine Wertung von Dexter durch Breivik: „I am currently watching Dexter, the series about that forensic mass murderer. Quite hilarious.“ – „Ich schaue aktuell Dexter, die Serie über einen gerichtsmedizinischen Massenmörder. Ziemlich lustig.“ Dexter ist in Deutschland  aus gutem Grund mit einer Altersfreigabe ab 18 versehen.„Dexter“ (USA ab 2006) erfüllt die blutigen Träume Lynchjustiz-affiner Amerikaner als Serienmörder, der nur die Bösen abschlachtet – wie bereits 2001 in der amerikanischen Spielfilm-Produktion „Dämonisch“ (Originaltitel: „Frailty) vorgedacht. Bill Paxton spielte hier einen Vater, der angewiesen von einem Engel, Kinderschänder und Mörder mordet und der versucht, dieses Handwerk seinen Kindern zu vererben – mit blutigem Erfolg auch in der zweiten Generation. Während in „Dämonisch“ das metaphysische Grundmotiv des biblischen Racheengels noch plump dargelegt wird – die Erscheinung des Engels erfolgt in fotorealistischen, kitschigen Bildern – wird es in Dexter in ästhetischen Hochglanzbildern à la CSI Miami eher subtil umgesetzt. Das Titelbild zur sechsten Staffel zeigt den Hauptdarsteller, während sich an der Wand hinter ihm die Blutspritzer seiner Opfer als Flügel abzeichnen. Titel: „The avenging angel returns.“ – „Der Racheengel kehrt zurück.“Fand Breivik Dexter tatsächlich nur „lustig“ – oder will er womöglich mit dieser Verniedlichung einer Serienkiller-Serie darüber hinwegtäuschen, dass er dort mehr fand als nur gute Unterhaltung? In Dexter Staffel/Season 02 Episode 07 mit dem Folgentitel „That Night, a Forest Grew“, verfasst Dexter ein 32-seitiges, wirres Manifest und schickt es der Zeitung, um die Ermittlungsbehörden, die ihm gerade auf der Spur sind, abzulenken. Die ergehen sich dann auch in ausgedehnten Textanalysen des Manifests. Die Autoren der Serie dürften sich hier an dem „Unabomber“ genannten Mathematiker Ted Kaczynski orientiert haben, der Mitte der 90er Jahre insbesondere Wissenschaftler mit Briefbomben terrorisierte und sich in einem Manifest über seine technophoben Motive ausließ (und der übrigens von Breivik ebenfalls leicht modifiziert zitiert wurde).Hier zwei Szenen aus der Dexter-Manifest-Folge:Dexter zu sich, während er die Ermittler, die sein Manifest untersuchen, im Blick hat: „Sie spielen immer noch meine Komposition. Ich komme mir vor, als würde ich eine letzte Symphonie dirigieren. Das Requiem für den dämonischen Dexter.“ (ab Minute 26.00)Polizist Angel zitiert gegenüber Dexter aus dem Manifest: „’Tötest Du einen, bist Du ein Mörder, bei Tausenden schon ein Eroberer. Tötest Du alle, bist Du Gott.’ Hört sich das nicht so an, als hätte unser Mann eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, den klassischen Gotteskomplex?“Dexter: „Du bist auf eine Goldader gestoßen.“Dexter zu sich: „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, welcher Teufel mein Alter Ego geritten hat, als ich diesen Mist schrieb. Ich hab aus allen möglichen Internet-Blogs zusammenkopiert, was ging. Ein Instant-Manifest.“(ab Minute 38.35; weitere Stellen mit Erwähnung des Manifestes: 07.30, 21.18, 41.20)
Diente und dient Breiviks Manifest lediglich als Mittel der Desinformation – so wie es in Dexter vorgemacht wurde? Eine Überlegung ist diese These allemal wert. Auch sein vorübergehendes Engagement in einer rechtspopulistischen Partei in Norwegen dürfte dann als lediglich gespielt gedeutet werden, ebenso wie die zu seinem sonstigen ideologischen Auftritt stark in Kontrast stehende Mitgliedschaft bei den liberalen Freimaurern.


Soweit so spannend.

Auf meinem Blog bin ich dem natürlich meine Antwort schuldig.

Wegener wirft wichtige Fragen auf, die in den bisherigen Erklärungsversuchen zum Phänomen Breivik und seiner Tat weitgehend unbeachtet, oder sogar unterschlagen blieben.

Breiviks Morde als Ausdruck und Vollendung seiner religiösen oder politischen Überzeugungen und Ziele zu erklären, ist für uns, seine Mitmenschen, ein bequemes Mittel, das Geschehene in den Grenzen und Gesetzen des uns bekannten Weltbilds zu fassen, es beschreibbar und damit beherrschbar, erträglich zu machen.

Wir wollen die Antriebe des Täters nicht teilen, aber doch aus der schützenden Entfernung der Vernunft verstehen können. Wir suchen nach bekannten Mustern, nachvollziehbaren Ketten von aufeinander folgenden Ursachen und Wirkungen.

Indem wir das Phänomen Breivik auf die Formeln von Religion und Politik vereinfachen, reden wir es uns beherrschbar.

Erst so können wir hoffen, es als Katastrophe unserer Gemeinschaft zu bewältigen.

Wir wollen Breiviks Geisteskrankheit als Beweggrund ausklammern, weil das Wesen der Krankheit sich jeder Einordnung in Grenzen, Gesetze, Mustern oder Formeln unseres bekannten Weltbilds entzieht.
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,801323,00.html

Im zwanghaften Streben, die unheimliche Fremdheit der Krankheit zu leugnen und uns den Täter an ihr vorbei als politischen und/oder religiösen Terroristen zu erklären, nehmen wir uns selbst jede Chance, sein wirkliches Wesen und unsere Beziehung zu ihm zu verstehen.

Der Geisteskranke denkt nicht mehr als Mitmensch,  er ist Träger der Krankheit und durch sein Handeln ihr Überträger in die Gemeinschaft, in uns hinein. Er folgt in allem den Umständen und Bedingungen ihrer memetischen Ausbreitung.

Die Erkenntnis dieser geteilten Selbsttäuschung ist nur die erste unangenehme Wahrheit die wir uns erarbeiten müssen. Denn diese Selbsttäuschung ist keine Einbahnstrasse.

Auch Breivik dienen unsere politischen und religiösen Meme als Mitttel, die Wirklichkeit seiner Krankheit vor sich selbst zu leugnen.

Für jeden Kranken ist die Erkenntnis und Annahme des eigenen Zustands, erste Voraussetzung für die Chance seiner Heilung.

Diese Erkenntnis kann der Kranke nur erlangen, wenn er sich sich selbst in Frage stellt:

Ich bin nicht normal.

Ich muss mich ändern.

Ich brauche Hilfe.

All diese Wahrheiten sind hart  und schmerzhaft.

Es ist dagegen verführerisch, sich die eigene Krankheit zur Normalität umzudeuten, für sich und die Gesellschaft.

Ich bin nicht krank.

Krank sind die anderen.

Ebenso wie politische und religiöse Meme uns dienen, sich der Auseinandersetzung mit Breiviks Krankheit zu entziehen, dienen sie Breivik als Fassaden, seine Krankheit vor sich selbst zu leugnen.

So verwerflich die von ihnen übertragenen Werte auch sind, es sind in sich funktionierende Systeme, in denen man sich gesund, normal wähnen kann.

Ich bin nicht allein.

Ich bin nicht krank.

An diesem Punkt enden die Ähnlichkeiten zwischen Breivik und seinem Vorbild Dexter.

Breiviks Taten deuten auf sein Bedürfnis, kein kranker Einzelgänger, sondern ein heldenhafter Vorreiter einer großen gemeinsamen Sache zu sein.

Dexter ist in der Beziehung zu seiner Krankheit Lichtjahre weiter.
Er erhebt sich in ihr zum einzigartigen Außenseiter zur restlichen Gesellschaft, Unmensch als Übermensch.

Er hat keine Beziehung zu den tradierten Memen unserer Gesellschaft. Für ihn sind sie nur austauschbare Maskeraden, um das Fremde in ihm vor uns zu verbergen.

Dexter und Breivik sind Träger der Meme ihrer Krankheiten in unsere Gesellschaft, wirklich und künstlich.
http://en.wikipedia.org/wiki/Dexter_Morgan#Connections_to_actual_crimes

Damit stehen sie in der Tradition von Gilles de Rais bis Counterstrike.
http://timerime.com/en/timeline/522174/Serial+Killers+Through+the+Ages/

Ihr Angebot an uns ist im besten Fall Abschreckung oder gewaltfreie innere Befriedigung, im schlimmsten Fall Rechtfertigung und Ermunterung der in uns selbst wartenden Krankheit.

All diese Angebote sind an eine Gesellschaft gerichtet, die sich weder Breiviks, Dexters, geschweige den eigenen Krankheiten stellen will. Das zu tun, hieße, die Geborgenheit bekannter Meme zu verlassen und sie in Frage zu stellen.

Was in unseren politischen und religiösen Memen bietet sich gewalttätigen Geisteskranken an, ihr Handeln vor uns und sich selbst zu rechtfertigen?

Was folgt, wenn wir uns diesen Fragen weiter entziehen, weiter den immer gleichen, falschen Fragen, mit den immer gleichen, falschen Antworten begegnen?
http://www.welt.de/debatte/article13731400/Es-geht-um-den-Machtrausch-nicht-um-Ideologie.html

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