06 Mai 2023

offener Abschiedsbrief an Sascha und Boris Simnovec



Hallo Herr Sascha Simnovec,

Hallo Herr Boris Odenkirchen (geb. Simnovec),

bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das "sehr geehrte" verweigere!

Es wäre geheuchelt und selbst Ihnen schulde ich, wenn schon nicht Anstand, so doch zumindest Wahrhaftigkeit.

Was uns bleibt, ist das "Sie".

Es bewahrt mir einen gefühlten Sicherheitsabstand vor Ihnen, den ich auch nach all den Jahren immer noch brauche.

Es bewahrt uns alle drei vor einer Nähe, die keiner von uns wünscht.

Das klingt feindselig.
Ich bedaure das.

Nicht um Ihretwillen, denn Sie und die Erinnerungen an Sie, die mich bis zu meinem Ende verfolgen werden, sind der Grund, warum es mir so schwer fällt, es anders klingen zu lassen.

Und gleichgültig ob Sie es erlauben oder nicht, ich werde zum unzählbaren Mal versuchen, meine Seele von diesen Erinnerungen zu erleichtern, aber zum ersten Mal, indem ich darüber schreibe.

Irgendwann nach 1979 müssen diese beiden Photos aufgenommen worden sein






Sie und ich waren Mitschüler in derselben Klasse an der Grundschule Bochumer Straße in Recklinghausen, heute Cornelia Funke Grundschule.
https://cfs-recklinghausen.de/

Unsere Klassenlehrerin war Frau Arlt.

Waren wir Schulfreunde?

Was könnte weiter von der Wirklichkeit entfernt sein?

Ihre Schulfreunde waren Andre Hopp und Patrick Ahmann, die auch auf diesen Fotos zu sehen sind.

Kann man Schulfeinde sein?
Für das Kind, das ich damals war, waren Sie vier Schulfeinde.
Für das Kind, das ich damals war, haben Sie vier jeden Schultag zur Hölle gemacht.
Tag für Tag.
Jahr für Jahr.

Als ich zum Theodor-Heuss-Gymnasium kam
http://www.thg-recklinghausen.de/

habe ich so sehr gehofft, Sie und Ihre Quälerei endlich hinter mir zu lassen, mich von Ihnen zu befreien.
Aber die Schulleitung hat uns, mit den besten Absichten, in dieselbe Klasse eingeschult.

Eine Erinnerung ist beispielhaft für diese Zeit:
Eine Lehrerin fragte unsere Klasse, was wir uns zu Weihnachten wünschten.
Ich hatte damals die irre Vorstellung, ich könnte meine Behinderung mit Krafttraining überwinden.
Ich hatte mir deshalb von meiner Mutter Kurzhanteln und Zugfedern gewünscht.
Das wollte ich vor der Klasse, vor Ihnen nicht preisgeben.
Ich fürchtete, wie immer, Ihren Hohn, Ihre Verachtung.
Ich schwieg.
Es waren Sie Sascha oder Sie Boris, der in die Klasse rief:
"Ich weiß was Werner sich zu Weihnachten wünscht:
Einen elektrischen Rollstuhl!"
Ich träume heute noch von dem Gelächter.

Ich habe damals alles dafür getan, sitzen zu bleiben, um dieser Klasse, um Ihnen zu entkommen.
Ich habe es geschafft.
Danach habe ich gelernt, dass es Schulfreunde geben kann.

Kann der erwachsene Mensch, der ich heute bin, den Kindern, die Sie damals waren, ihre kindliche Grausamkeit vorwerfen?
Die kindliche Grausamkeit, mit der Sie die Wehrlosigkeit meiner Zerebralparese
https://de.wikipedia.org/wiki/Infantile_Zerebralparese

für Ihr Vergnügen ausgenutzt und mich damit mündlich und tätlich gequält haben?
Tag für Tag?
Jahr für Jahr?

Das könnte ich.
Das habe ich lange getan.
Aber das muss ich mir als Mensch, der aus seinen inneren Zwängen erwachsen will, verbieten.


Wir hatten damals ein Einziges gemeinsam.
Wir alle waren noch Kinder.


Niemand konnte von Ihnen erwarten, dass Sie mich besser behandeln.
Sie waren Kinder.
Jemand hätte es Ihnen beibringen müssen, damit Sie es lernen könnten.
Die Einbeziehung von Behinderten war zu unserer Schulzeit noch kein gesamtgesellschaftlicher Anspruch, ist es tatsächlich bis heute nicht.

Niemand konnte von mir das Selbstwertgefühl erwarten, mich über Ihre Beleidigungen, Ihre Angriffe zu erheben, hinwegzusetzen.
Ich war ein Kind.
Woher hätte dieses Selbstwertgefühl kommen sollen?
Niemand hat mir Gründe gegeben, auf denen ich es hätte aufbauen können.

Sie waren nicht allein.
Ich war allein.
Ich blieb allein.

Ich musste 28 Jahre alt werden, um zu begreifen, dass Selbstwertgefühl möglich ist.
Ich musste 41 Jahre alt werden, um zu begreifen, dass Selbstwertgefühl für mich möglich ist.
Ich musste 47 Jahre alte werden, um zu begreifen, dass ich Hilfe brauche, mein Selbstwertgefühl aufzubauen.

Mein Selbstwertgefühl gibt mir heute mit 52 Jahren die Kraft, mich zu freuen, dass es Ihnen, offensichtlich, gut geht.




Für Ihrer beider Zukunft Gesundheit, Glück und Erfolg!

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