11 Dezember 2011

Chain World - Religion aus der Maschine



Religionen sind für ihre Gläubigen geschriebenes und lesbares Bekenntnis zu etwas Heiligem, das an sich übersinnlich ist. Die Wahrheit ihres Glaubens rechtfertigt sich jenseits jeder körperlichen Erfahrung. Sie besteht ohne wissenschaftlich erbrachten Beweis.

Die heiligen Gesetze die in einer Religion gesammelt sind, stehen für den Gläubigen außerhalb der Zeit und der Welt.

Sie waren vor allem, bestehen ohne alles andere und werden nach allem anderen bleiben.

Sie sind in die Welt getragen, ohne an diese gebunden zu sein. Gotteskinder, Erleuchtete, Propheten sind Träger, nicht Schöpfer ihrer Heilgkeit.

Das Heilige und sein Gesetz sind da, mit oder ohne den Gläubigen.

Soweit der Glaube.

Betrachtet und vergleicht man Religionen von außen und über die bisherige Entwicklung der Menschheit hinweg, werden Muster und Abläufe erkennbar, die zu anderen Erklärungsansätzen über die Ursprünge und Eigenschaften von Religionen weisen.

Steigt Religion wirklich vom Himmel herab, oder ist sie doch Menschenwerk?

Will man diese Ansätze weiter verfolgen, ergeben sich aber mehrere Schwierigkeiten.

Der Punkt an dem eine Religion erstmals ins gemeinschaftliche Bewusstsein trat, liegt oft so lange, manchmal Jahrtausende, zurück, dass es nur wenige bis gar keine zeitgenössischen Berichte darüber gibt.

Gibt es Quellen, so sind ihre Autoren zu oft von dem Wunsch bewegt, den jenseitigen Ursprung einer Religion unbehindert von Tatsachen entweder zu beweisen, oder zu widerlegen.

Der Betrachter steht so oder so hilflos vor einem Gewirr aus Erscheinungen, Mythen, Wundern, weiterhin unfähig die Religion außerhalb des Glaubens zu verstehen.

Vor diesem Hintergrund scheint der Glücksfall fast unmöglich, die Entstehung einer Religion in einer künstlich geschaffenen Versuchsanordnung in Echtzeit, im Hier und Jetzt beobachten zu können, ohne die Schleier widerstreitender Beweggründe und Deutungen, mit eindeutig bestimmbarem Ursprung und erkennbaren Eigenschaften.

Mit “Chain World” ist genau dieser Glücksfall eingetreten.

Am Anfang stand eine ebenso außergewöhnliche wie klar definierete Aufgabe:

“Erschaffe eine Religion als Computer-Spiel!”

Allein daraus folgt schon, dass der Schöpfer Jason Rohrer, sich selbst wie allen anderen als Schöpfer bewusst war.

Über das Warum und Wie seiner Schöpfung bestand kein Zweifel.

Mit den in neun Gebote gefassten Spielregeln folgte er den bekannten Formen religiöser Tradition.

1. Du sollst das Spiel beginnen.
2. Du sollst “Chain World” wählen.
3. Du sollst bis zu deinem ersten Tod spielen.
3a. Du sollst keine geschriebenen Botschaften hinterlassen.
3b. Du darfst Dich töten.
4. Du sollst aufhören zu spielen, nachdem Du gestorben und auferstanden bist.
5. Du sollst Deine Welt sichern.
6. Du sollst das Spiel sichern.
7. Du sollst den USB-Stick jemand geben, der daran Interesse zeigt (Rohrer spricht hier in seinem Vortrag ausdrücklich davon, einen “Suchenden” zu finden).
8. Du sollst niemals darüber sprechen, was Du in “Chain World” gesehen oder getan hast
9. Du sollst niemals wieder spielen.

Solche Begriffe von Tod, Wiedergeburt, Suche und Geheimnis ziehen sich durch alle Religionen.

Und doch blieb Rohrers Schöpfung bis zu diesem Punkt nur das Abbild einer Religion, eine Abstraktion ihrer Mechanismen, ohne heiliges Geheimnis oder Versprechen.

Religion als Kettenbrief.

Aber schon jetzt war “Chain World” Überträger einer Idee, eines Mems.

Als Jason Rohrer der erste Gott von “Chain World” es an Jia Ji übergab, trug er es in die Welt.

Was folgte, war ein Paradebeispiel einer sich ausbruchsartig entwickelnden memetischen Mutation.

Die Mutation eines Spiels in eine echte Religion mit mit ihren eigenen Spaltungen, Sünden und ja, heiligen Kriegen, wie sie im WIRED Beitrag von August 2011 ausführlich beschrieben werden.

Keine dieser Entwicklungen war dabei ursprünglich  im Spiel selbst ausdrücklich angelegt, nur in entliehenen religiösen Begriffen verschlüsselt.

Erst mit der Übertragung von “Chain World” in die Gedanken seiner Spieler konnte es mit ihren bereits vorhandenen religiösen Memen mutieren, sich an ihnen mit dem Feuer des Glaubens entzünden.
Das Spiel blieb immer ein Spiel. In seinen Gläubigen wurde es mehr, wurde es heilig.

Hier kehrt sich das Verständnis von  Religion um.

An ihrem Anfang ist nicht das Göttliche, sondern der nach Glauben Suchende. Er nimmt ein Mem an, dass ihm die gewünschten religiösen Ideen in der gewünschten Verschlüsselung bietet.

Indem er das Mem verinnerlicht und vereinnahmt, setzt er seine Mutation mit ihm fort.

Offensichtlich kann so ein “heiliges” Mem von einem Computer-Spiel genauso wirksam übertragen werden, wie von einem Guru, einem Rabbi oder einem römisch-katholischen Priester.

Da wie dort, braucht es keine übersinnliche, überirdische Kraft, nur den Übertragungsweg von Mensch zu Mensch.
Da wie dort, sind die möglichen Mutationen von religiösen Memen grundsätzlich außer Kontrolle.

Braucht der Gläubige keinen Gott um an diesen zu glauben?
Braucht er nur die Religion an sich?

“Chain World” beweist wieder, man kann an ein Computer-Spiel glauben.

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