01 November 2010

Die Evangelien von Polybius und Elektrophobia - Fallbeispiele vom gnostischen Glauben an das Böse in der Technik




Gibt es ein Videospiel mit Namen Polybius? Wurde es von Ed Rotberg im Auftrag vom Verleger „Sinneslöschen“ entwickelt? War Sinneslöschen eine Tarnung für ein geheimes Regierungsprogramm zur Erforschung der psychoaktiven Wirkung von Videospielen auf Menschen? Trieb Polybius seine Spieler von Alpträumen, über Wahnvorstellungen in den Selbstmord?

All diese Fragen sind unwichtig und uninteressant.

Interessant und wichtig ist, dass es Menschen gibt, die an all das glauben und warum sie das tun.

Was gibt ihnen dieser Glaube? Was treibt sie auf der Suche nach dem Spiel und seinen Schöpfern so weit, dass, am Punkt da sie beide nicht finden können, sie beide selbst erschaffen?

Sie glauben an ein auf sie gerichtetes Böse aus der virtuellen Wirklichkeit eines Videospiels. Sie glauben an dieses Spiel als Teil einer gegen sie gerichteten Verschwörung. Der Name selbst ist ein Chiffre für Geheimnis.

Sie können weder das Dasein von Polybius, noch das seiner Schöpfer mit den Mitteln unserer geteilten Wirklichkeit beweisen.

Also muss unsere gesamte geteilte Wirklichkeit auch Teil der Verschwörung sein. Auch sie ist virtuell. Auch sie ist Teil von Polybius. Wo beginnt diese Verschwörung? Wo endet sie? Endet sie? Wer nimmt an ihr teil? Du? Ich? Alle anderen?

Sind wir gefangen in einem unentrinnbarem Netz von Strommasten, Computern und Toastern, die uns mit ihren elektromagnetischen und mikrowelligen Strahlen langsam aber sicher töten?

Auch daran glauben viele empfundene Opfer mit religiösem Eifer. Auch dieser Glaube ist mit den Mitteln unserer geteilten Wirklichkeit nicht beweisbar.

Also muss auch ihr Leid Plan und Wille der Verschwörer sein.

Wie groß ist das Gefühl der Ohnmacht, der Einsamkeit, der Verzweiflung, das ein solcher Glaube einflößt?

Trotzdem ziehen die Gläubigen ihre Ohnmacht, ihre Einsamkeit, ihre Verzweiflung dem Leben in unserer Welt vor, in der ihre Bedrohungen nicht wirklich sind.

Ihr Misstrauen gegen unsere Wirklichkeit ist stärker. Ihre Sehnsucht nach einer Wirklichkeit hinter unserer Wirklichkeit ist stärker.

So stark, dass die Gläubigen von Polybius, wie von Elektrophobia das nicht da sein von Beweisen als Teil der Verschwörung deuten. So stark, dass sie sich ihre Beweise selbst erschaffen, mit gerade den Technologien, an denen sie sonst ihre Verschwörer erkennen:

Der Elektrophobiker irrt mit einem elektromagnetischen Messgerät durch seine Wohnung auf der Jagd nach Strahlung.

Der Gläubige der Polybius und Sinneslöschen nicht finden kann, stellt sie selbst in das Internet, aus dem er sie zu kommen wähnt.

Warum?

Der Glaube an das Dasein eines Plans, einer Verschwörung ist als Erklärung der Welt leichter zu ertragen, als die Erkenntnis, dass es keine Verschwörung, keinen Plan gibt, der die Welt erklären kann.

„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“

Eine Welt deren technologischer Fortschritt für den Großteil der Menschheit bereits heute den Status der Singularität erreicht hat, deren einziges erkennbares Gesetz der Zufall ist, flößt ein größeres Gefühl der Ohnmacht, der Einsamkeit und der Verzweiflung ein, als eine Welt, die von einem großen Plan von Verschwörern geführt wird.

Mehr noch, das bloße Wissen um das Dasein des Plans, gibt dem Gläubigen gefühlte Überlegenheit über seine unwissenden Mitmenschen. So erhebt er sich zum Opfer erster Klasse.

Und so erleben wir wieder, wie sich zwei kulturelle Ebenen durchdringen, die wir doch unendlich von einander entfernt glaubten.

Wieder bemächtigt sich Gnosis der High-Tech als memetischem Träger, so wie es Eric Davis und Franz Wegener beschreiben. Die Fragen nach den Wirkungen auf unsere Kultur bleiben offen zur Debatte.

Dank an Zen_Albatross von Motherboard für die Inspiration!

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