06 November 2010

Das Medium von RTL - Botschaften aus der spiritistischen Parallelgesellschaft



Leben wir im Jahr 2010, oder im Jahr 1848? Sieht man "Das Medium" von RTL, bekommt man Zweifel. Die Parallelen sind deutlicher als ein unbestimmtes Déjà-vu.

1848

Die Schwestern Kate und Margaret Fox entwickeln eine Technik, die sie mit der Beherrschung ihrer Fuss- und Handgelenke geisterhafte Geräusche wie Klopfen oder das Rücken von Möbeln produzieren lässt.

Ein bereits memetisch aufgeladenes, bereites und williges Umfeld deutet die Geräusche als Botschaften Verstorbener. Der lang ersehnte Morse Code zwischen Diesseits und Jenseits scheint endlich entdeckt. Ähnlich dem Telegramm an die Verwandten an der Westküste ist das Ferngespräch mit den Toten nur noch eine Sitzung mit den Fox Schwestern entfernt. Kommunikationstechnologie uneinholbar ihrer Zeit voraus, 28 Jahre vor dem ersten Telefongespräch mit einem lebenden Menschen.

Von Ihrer Entdeckung an, sind Margaret und Kate, die bald von ihrer älteren Schwester Leah geführt werden, ein mediales Phänomen mit allem was auch nach aktuellen Standards dazu gehört: Inzenierung, Sensationen, Skandale; Sex, Drugs und Rock n Roll. Die Mädchen sind ständig auf Tour, vor prominentem, gut zahlendem Publikum.

Ihre Telegraphenleitung zur anderen Seite ist ein profitables Angebot für eine große Nachfrage. Es bietet allen etwas:

Wer Angst vor dem letzten Ende hat, findet Erleichterung im Versprechen, dass es kein letztes Ende gibt.

Wer skeptisch gegenüber einem bloß durch religiöses Dogma belegten Leben nach dem Tod steht, dem bieten die Sitzungen der Fox Schwestern den technoiden Charme eines empirischen Laborexperiments unter kontrollierten, immer gleichen, wiederholbaren Bedingungen; eine Hintertür aus der Kälte des Rationalismus in die Behaglichkeit des Glaubens.

Wer fürchtet, in der Einheit einer kirchlichen Gemeinde mit seinen spirituellen Bedürfnissen unter zu gehen, der darf im privaten Zwiegespräch mit den Ahnen, seine ganz eigene, persönliche religiöse Erfahrung finden und für sich behalten.

Dieses Rundherum-Sorglos-Paket aus religiösem Versprechen, technologisch-wissenschaftlicher Begründbarkeit und individualistischer Anwendung macht aus dem Phänomen eine Massenbewegung, ja eine Religion, komplett mit zahlreichen Propheten, Kirchen und monatlich erscheinenden Gemeindezeitungen.

Die Fox Schwestern sind der Urknall des Spiritismus.

Dass sie zum Ende ihres Lebens ihren Betrug selbst und notariell beglaubigt aufdecken, ändert daran nichts mehr.

Das Mem, das sie jungfräulich geboren hatten, wächst am Eifer seiner Gläubigen, wie seiner Zweifler zu immer größerer Stärke heran.

Es überlebt Kate, Margaret und Leah bis heute.

2010, oder?

Die Fernsehsendung „Das Medium“ wäre nie produziert worden, wäre sich RTL nicht eines bestimmten betriebswirtschaftlichen Gewinns dadurch zweifelsfrei sicher gewesen.

162 Jahre später kann also immer noch profitabel mit der selben medialen Nachfrage gerechnet werden, mit den selben unerfüllten spirituellen Bedürfnissen, die schon die Fox-Schwestern befriedigten.

162 Jahre später beweist der Spiritismus immer noch seine Stellung auf der technologischen Höhe der Zeit. Klopfende Gespenster und rückende Möbel verstecken sich heute hinter der Choreographie einer psycho-analytischen Behandlung.

162 Jahre später warten vor den Bildschirmen immer noch Massen von Suchenden und Zweiflern. Im Zeitalter von Atom, Gen und Mikrochip geben ihnen Chemie, Physik und Mathematik immer noch keine befriedigenden Antworten auf die offenen Fragen ihrer Wirklichkeit. Auch die großen Religionen bleiben für sie taub und stumm. Immer noch suchen und finden sie ihre Antworten nur im Dialog mit der anderen Seite.

162 Jahre später werden sie immer noch mehr. Sie passen nicht mehr in verborgene Hinterzimmer. Sie warten vor einem weltweit vernetzten Medium.

Wie lautet unser Integrationsangebot an diese Parallelgesellschaft?

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