30 August 2009

Der neue Sozialismus des Kevin Kelly - Plädoyer für eine sozialere Marktwirtschaft USA



"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Karl Marx

Gemessen an dieser Forderung, wäre Kevin Kelly womöglich schon immer ein Autor nach Marx Geschmack gewesen. Zwar ist auch Kellys erster Zugang zur Welt immer die Interpretation der Gegenwart aus der er seine Prognosen für die Zukunft entwickelt. Doch in den letzten 15 Jahren haben Prognosen anderer Autoren kaum eine vergleichbare Wirkmacht entwickelt, zu den Impulsgebern ihrer eigenen Verwirklichung zu werden. Kelly beschreibt eine Zukunft und sogleich macht sich die gesamte digitale Generation daran, diese real werden zu lassen.



Deshalb lässt es aufhorchen, wenn gerade Kelly den alten marxistischen Begriff des Sozialismus aus dem Müllhaufen der Geschichte hervorholt, ihn für die digitale Gegenwart rekonstruiert und zur neuen globalen Bewegung in die Zukunft erklärt.
Er ist sich bewusst, dass er diese roten Fahne vor den schnaubenden Bullen des antikommunistischen, nur wirtschaftspolitisch liberalen Silicon Valley schwenkt. Die wertneutrale Verwendung des S-Wortes kann dort auch 59 Jahre nach Senator McCarthy noch den sozialen Tod bedeuten, vom Verlust der Meinungsführerschaft ganz zu schweigen.

Wohl deshalb beginnt Kelly seinen Text, als De-Eskalation an allen nur denkbaren Fronten. Der Begriff Sozialismus wird buchstäblich komplett entkernt, von all seinen politikwissenschaftlichen und historischen Bedeutungen getrennt. Es bleibt nur eine leere Begriffshülle, die Kelly frei mit neuen Memen auflädt.

Kelly entwickelt seinen neuen, digitalen Online-Sozialismus über vier, aufeinander aufbauende Stufen:
  1. Teilhabe: Jeder teilt alles mit jedem. Milliarden von Fotos, Videos, Blogs, Bewertungen, Ortsangaben und Notizen sind im kollektiven Besitz der Online-Gemeinschaft. Die Medien dieser Teilhabe sind unter anderen Youtube und Facebook
  2. Teilnahme: Alle produzieren Mehrwert für alle. Jede Bewertung, Kategorie, jeder Kommentar den ein Nutzer einer frei verfügbaren Information zuordnet, mehrt ihren Wert für die Gemeinschaft. Kelly betont, dass das sozialistische Versprechen "Jeder nach seinen Möglichkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" hier übererfüllt würde, da der Beitrag des Einzelnenen systematisch vervielfacht wird und er über seine Bedürfnisse hinaus belohnt wird. Die Medien dieser kollektiven Mehrwertschöpfung sind unter anderen Digg und Reddit.
  3. Zusammenarbeit: Organisiert sich diese kollektive Wertschöpfung auf die Erreichung eines gemeinsamen langfristigen Ziels, so ist der Lohn des Einzelnen für seinen erbrachten Beitrag selten Geld und oft Anerkennung, Befriedigung und Erfahrung. Die Produkte solcher Zusammenarbeit sind in der Regel kostenlos. Die Regeln für diesen neuen freien Markt werden unter anderen in den Creative Commons und den GNU Lizenzen bestimmt.
  4. hierarchischer Kollektivismus: Das digitale Netzwerk bietet die Infrastrukturen für Organisationen, die mit dem Minimum an notwendiger Hierarchie, das Maximum möglicher, kollektiver Produktivität erreichen. Die Mitglieder der Online-"Zentralkomitees" legitimieren sich dabei nicht über einen unterstellten Volkswillen wie bei Rousseau und den Staaten des real gescheiterten Sozialismus, sondern über die kollektive Anerkennung ihres Beitrags für die Gemeinschaft. Es entstehen Meritokratien. Beispiele Hierfür sind Linux, OpenOffice und Mozilla.
Bis zu diesem Punkt ist nichts, was Kelly anführt neu, alles schon an anderen Stellen ähnlich beschrieben worden. Warum holt der Meister des Unerhörten Allgemeinplätze hervor und vor allem, warum belastet er sich mit der Sisyphos-Aufgabe, den verbrannten Begriff "Sozialismus" ideologisch zu entladen? Was ist Kellys Motiv?

Man bekommt eine Ahnung, wenn er zum Ende hin wieder gegen unausgesprochene Vorwürfe präventiv in die Defensive geht. Er betont nochmal, dass der neue Online-Sozialismus auf freien, marktwirtschaftlichen Strukturen aufbaut und diese unterstützt. Er spricht alle Protagonisten der digitalen Kollektive vom Ideologie-Verdacht frei und erklärt sie zu rationalen Pragmatikern.

Zum Schluß dann doch die Rückkopplung des digitalen Entwurfs in die Politik des Alltags. Bezüge auf die Renaissance sozialistischer Begriffe nach der jüngsten Krise des globalen Kapitalismus. Verweise auf das Beispiel skandinavischer, sozialer Marktwirtschaften. Endlich die kaum versteckte Hoffnung, die globale kollektivistische Gemeinschaft des Cyberspace möge sich in tatsächlichen, politischen Wahlentscheidungen ausdrücken.

Eine gezielte Google-Abfrage gibt letzte Gewissheit: Wo sonst wird der Begriff des Sozialismus zur Zeit am intensivsten diskutiert? Im US-amerikanischen Glaubenskrieg um Präsident Obama und seine geplante Gesundheitsreform.

Aus europäischer Sicht ist Kellys Aufsatz ein nationalpolitisches Plädoyer für eine sozialere Marktwirtschaft in den USA. Er wirft sein Ansehen als Ideengeber der New Economy in die Waagschale, um deren antikommunistischen Beissreflex gegen notwendige Reformen zu entkräften.

Sieht man die hohe ideologische und emotionale Aufladung der übrigen Diskussion, scheint sein Erfolg trotz allem unwahrscheinlich.




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