03 Oktober 2010

Jaron Lanier - ein Kind frisst seine Revolution



Am 20.03.1992, in meinen frühen Zwanzigern, sah ich die Dokumentation "Der achte Tag der Schöpfung. Computerforscher und ihre Schönen Neuen Welten. Gero von Boehm porträtiert Spitzenforscher" (leider nur noch die ersten Minuten in einem sehr alten RealPlayer-Format zu haben) von Gero von Böhm im Nachtprogramm der ARD. Mit der neugierigen Skepsis des vom humanistischen Ideal geprägten, deutschen Bildungsbürgers, porträtierte von Böhm eine neue Generation US-amerikanischer Denker, die sich ohne jegliche öffentliche Wahrnehmung daran machten, den nächsten Entwicklungsschritt der Menschheit vorzubereiten. Einen Schritt, mit dem auch und gerade der Begriff des Humanismus zurück gelassen, zumindest neu definiert werden würde.

Den Schritt in die virtuelle Realität. Den Schritt zum Transhumanismus.

Es war gleichsam beängstigend und faszinierend, mit welcher unbekümmerten Entschiedenheit, die Gruppe um Marvin Minsky und Danny Hillis ewig sicher geglaubte Wahrheiten über Wirklichkeit, Welt, Mensch und Maschine mit den Mitteln modernster Computer-Technik nicht nur in Frage stellte, sondern buchstäblich zerstörte um den Menschen über ihren Ruinen als neuen Schöpfer neuer Naturgesetze zu erheben. Es war die Unbekümmertheit von spielenden Kindern, die sich ihrer Unschuld sicher sind, in einem Paradies, das sie selbst erschaffen haben: dem Cyberspace.

Zu diesem virtuellen Freiraum sollte alles hin, alles in ihn hinein gezogen werden, was den Menschen wirklich ausmache: Seine Gedanken, seine Erinnerungen und ja... seine Seele. Zurück bleiben sollte nur der überflüssige, zum Hindernis verkommene „Meatspace“, das tote, seelenlose Fleisch unserer Körper.

Endlich davon befreit, hoch geladen in den unendlichen, kollektiven Speicher der virtuellen Realität würde der menschliche Geist nach Jahrtausenden der Suche Raum, Zeit, Macht und Erkenntnis ohne Grenzen finden.

Für mich, einen schwer Behinderten, ist die Befreiung vom eigenen Körper allein schon ein unwiderstehliches Versprechen. Ich war begeistert. die väterlich spöttelnden Fragezeichen, die Gero von Böhm damals hinter die Verkündigungen seiner Interview-Partner stellte, tat ich als Ignoranz einer längst verlorenen Generation ab, die ihre eigene Bedeutungslosigkeit nicht begreifen will.

Besonders fasziniert war ich von Jaron Lanier. Er war der Druide unter den Technokraten. Er war das Bindeglied zwischen den uralten Magien seit Stonehenge und der Magie der Matrix. Er programmierte virtuelle Realitäten und spielte dazu Didgeridoo. Die Perspektiven, die seine Mitstreiter nur in Dimensionen von Terra Byte und Berechnungen pro Sekunde beschreiben konnten, wurden in seinen Worten zu verheißungsvollen Traumwelten unendlicher Kreativität.

17 Jahre und unzählige gefühlte Sündenfälle später, ist Laniers Blick auf das von ihm mit erschaffene Paradies Cyberspace nur noch kalt, verbittert und resigniert. Warum?

In seinem Buch „Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht“, verknüpft Lanier zwei Kritiken gegen den Cyberspace von heute, die inhaltlich nicht mit einander in Verbindung stehen und die deshalb erst von einander getrennt werden müssen, um korrekt beantwortet werden zu können.

Die Anbetung der Bit-Illusionen - der Cyberspace als gnostische Erlösung

Lannier benennt die religiösen Tendenzen in der modernen Medienkultur, Information als eine, mit eigenem Freiheitswillen beseelte Einheit zu deuten, in Googles Algorithmen  Geister am Werk zu sehen, oder in Wikipedia ein allwissendes Orakel. Er zeigt auf, dass das Erlösungsversprechen der Unsterblichkeit in der elektronisch-digitalen Noosphäre in direkter Konkurrenz zum Erlösungsversprechen der jüdisch-christlichen Tradition steht. Hier bedient sich Lanier ausdrücklich bei den Begriffen von Pierre Teilhard de Chardin, unterschlägt aber ihre gnostischen Bezüge; die Abwertung alles weltlich körperlichen gegen das abstrakt Geistige, die Erlösung der Seele in das unendliche Licht der Daten.

Auch versäumt er seine Chance, sich als Mit-Impulsgeber des Memplexes Cyberspace zu bekennen.

Nein, plötzlich sei er immer nur Künstler gewesen; immer nur an den kreativen Möglichkeiten des Cyberspace interessiert, nie an seinen magischen. Mit Verlaub, Herr Lanier! Es ist auf Film dokumentiert, wie sich selbst im Cyberspace in eine Chimäre aus Mensch und Hummer verwandelt haben. Ich selbst war dort schon ein Werwolf. Das Leugnen eigener virtueller Allmachtsfantasien ist zwecklos.

Der ewige Frühling der Werbung - Das Schauermärchen vom kommunistischen Cyberspace

Bis hier hin, ist Laniers Analyse nachvollziehbar. Seine Läuterung bleibt unglaubwürdig. Sie scheut vor der Substanz der eigenen Lebenslügen.

Mit dem Einstieg in seinen zweiten Themenkomplex verliert Lanier zusehend seinen Rückbezug auf die Wirklichkeit.

Mit einer Ignoranz, die der von Andrew Keene nicht nach steht, verkürzt er den anhaltenden Trend zur Demokratisierung medialer  Produktionsmittel auf ausschließlich negative Allgemeinplätze:

Auf die eine Seite seiner Front stellt er die Industrie der Verlage, Film-Studios und Plattenfirmen. In seinen Augen, edle Gralshüter und Betreiber einer Kultur die ohne ihr Geschäftsmodell keine bleibenden Werte produzieren kann.

Lanier stellt seine Gerechten als die letzten ihrer bedrohten Art in einen verzweifelten Überlebenskampf gegen eine unmenschliche „Schwarm-Ökonomie“ die im Dienst von Google und seinen Nachahmern, Kreative ihres geistigen Eigentums im industriellen Maßstab zwangsenteignet, dieses Eigentum vergesellschaftet und damit wertlos macht. Als einzige Möglichkeit der Wertschöpfung bliebe so ein sich ständig auf sich selbst beziehender Werbebetrieb, der nur noch Bedeutungslosigkeit, Inhaltsleere und Dummheit produziert.

So markig, wie falsch. Der fortschreitende Prozess der Disintermediation geistigen Eigentums ist ein Fortschritt, der nur die Industrien wertlos macht, die die Produzenten nicht mehr künstlich von den Verbrauchern trennen können. Jeder Autor, Musiker und Filmemacher wird in naher Zukunft im Cyberspace die Mittel haben, sein geistiges Eigentum zu dem Preis zu vermarkten, den die Konsumenten dafür zu zahlen bereit sind.  Wer diesen freien Markt nicht will, soll beten, dass die iTunes und iBooks Stores ihn davor bewahrt.

Nein, Herr Lanier, dieser Cyberspace ist nicht der gnostische Himmel, den auch Sie uns einst versprachen.

Er ist aber auch nicht die kommunistische Hölle, mit der Sie uns jetzt drohen. Er bleibt, was wir daraus machen.

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