22 Januar 2012

Kopieren ist heilig - Kopimismus, die erste Kirche der Memetik?

Die Erscheinung “Chain World” hat gezeigt, dass religiöse Meme aus etwas entstehen und entwickeln können, das selbst überhaupt nichts übersinnliches oder jenseitiges in sich trägt, sondern vollkommen weltlich und gegenständlich wie zum Beispiel ein USB-Stick ist. 


Sobald wir nämlich auf diesem Stick ein Computer-Spiel speichern, machen wir ihn zum Überträger eines verschlüsselten Gefüges von Ideen, Vorstellungen, Gesetzen, Memen.


Bildet dieses Gefüge dann noch die Formen überlieferter, anerkannter Glaubensordnungen nach, ist es zu seiner Verschmelzung und Mutation mit deren Memen nur noch ein kleiner Schritt.

Aus dem Programierer wird der Prophet, die Spieler zu einer unendlichen Kette von Tod und Wiedergeburt göttlicher Schöpfer, Das Spiel selbst ist eine endlose Schöpfungsgeschichte und gleichzeitig rituelle Handlung.


Der USB-Stick wird zur digitalen Bundeslade.


Er trägt einen heiligen Text der von den Spielern immer weiter fortgeschrieben wird, über 
Offenbarungen, Versuchungen, Verdammnis und Erlösung.


Die Erscheinung “Chain World” beweist also, dass technische Meme religiöse Meme an sich ziehen können, mit ihnen verschmelzen, mutieren können.


Doch es bleibt eine Erscheinung. Nichts verspricht, dass dieses um ein technisches Mem gewachsene Gefüge religöser Meme von Dauer bleiben wird, sich selbst aus sich selbst erhalten kann, solange das Spiel ein Spiel bleibt.


Religionen sind keine Erscheinungen. Sie sind feste Gebäude von Memen, die stark genug sind, sich aus sich selbst zu erhalten, Erscheinungen zu überdauern, Generationen von Menschen durch deren Leben zu tragen.


Was fehlt “Chain World” zur Religion? Ist der Entwicklungssprung möglich, der ein technologisches Mem zur Religion werden lassen würde?

“Chain World” - göttliche Schöpfung als elektronischer Kettenbrief

Was “Chain World” vor allem anderen zur Religion fehlt, ist ein Versprechen auf einen Zustand, der jenseits des Jetzt und Hier liegt und der geteilten Vorstellung von Vollkommenheit näher ist, als das Hier und Jetzt. Chain World hat kein Evangelium, keine frohe Botschaft von Erlösung. 

Wer in “Chain World” Gott spielt, bleibt ohnmächtig gefangen in überlieferten Gesetzen. Er darf nur schöpfen, nicht herrschen. Er muss seine Schöpfung verlassen, ein göttlicher Uhrmacher bleiben. Er darf den Göttern nach ihm keine Botschaften hinterlassen. Die Schöpfungen der “Chain World” bleiben lauter Anfänge ohne Geschichte, ohne Ziel, ohne Bedeutung, ohne Sinn.

Religionen stiften Gemeinschaften stiften Ordnungen stiften Sinn.

Als religiöse Gesetze überlieferte Meme bieten den Halt, an dem sich Führende und Folgende zu Gemeinschaften des Glaubens verbinden und ordnen können.

Gemeinschaft mildert Angst vor Einsamkeit und Verlust und fördert Gefühle von Zusammenhalt, Geborgenheit, Ordnung, Sicherheit und Frieden.

Religion erhält die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft erhält den Einzelnen. Der Einzelne erhält die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft erhält die Religion.

Die Spieler von “Chain World bleiben einsame Götter in Welten, die von Gott zu Gott immer größer werden und doch leer bleiben.

Wo keine Botschaft ist, die über das Dasein der Schöpfung hinaus geht, sind keine Gläubigen. Wo keine Gläubigen sind, ist keine Religion. Wo keine Religion ist, verblassen Götter zu Erinnerungen an Einträge in Highscore-Listen.

Ohne frohe Botschaft und Gemeinschaft, ohne Evangelium und Kommunion bleibt “Chain World” ein technologisches Spiel mit religiösen Memen.

Ist es möglich, einen Schritt weiter zu gehen? Kann ein technologisches Mem vollständig zum religiösen Mem mutieren?

Das Evangelium des Kopimismus.

Der Kopimismus erhebt die Technik, Information zu vervielfältigen und zu verbreiten an sich zur moralisch richtigen, zur heiligen, rituellen Handlung. Ihr entgegen stellt er die Sünde, Information als geistiges Eigentum einzusperren und ihre Vervielfältigung und Verbreitung einzuschränken oder zu verhindern.

Kopimismus verspricht den Gläubigen durch Anwendung von Technik, durch richtiges, heiliges Handeln, dem Bösen zu entsagen und Teil des Heiligen werden zu können.

Die Kommunion des Kopimismus.

Der Kopimist kann nicht allein richtig, heilig handeln, heilig sein.

Das Vervielfältigen und Verteilen von Information ist an sich immer eine zwischenmenschliche Handlung, im Kopimismus das heilige Ritual. Das Ritual schafft geordnete Gemeinschaft. Die geordnete Gemeinschaft eröffnet die Möglichkeit, das Ritual immer und immer wieder in die Zukunft zu überliefern, zu kopieren.

Kopimismus und Gnosis - Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Kopimismus rechtfertigt seine Glaubenssätze mit vielen Zitaten aus abrahamitischer und hinduistischer Überlieferung. Aber wie verhält er sich zur Gnosis, der großen Unbekannten der Weltreligionen?

Kopimismus und Gnosis heiligen Information. 

Aber für den Gnostiker bleibt Information nur als Geheimnis heilig. Selbst wenn es geteilt wird, bleibt es ein Geheimnis zwischen wenigen Gerechten, Auserwählten, Erleuchteten, Erhabenen.

Information, die für alle, immer und überall frei verfügbar ist, ist für den Gnostiker kein Geheimnis mehr, weltlich, wertlos.

Sein Paradies ist ein Jenseits, wo alles von allem Weltlichen befreites Geheimnis ist, alles Weltliche im Geheimnis aufgelöst.

Das Paradies des Kopimisten ist ein Diesseits wo Alle Information alle Menschen und Dinge durchdringt und mit miteinander verbindet.

Kopimismus - Kirche der Memetik als heiliger Technik

Memetik beschreibt die Abläufe der Verfielfältigung, Übertragung und Veränderung von Information nach genetischen Gesetzmäßigkeiten.

Kopimismus erhebt diese Abläufe als angewandte Techniken zu heiligen Handlungen.

Kopismus hebt die Trennung von Religion und Technik auf.

Der Mensch, der sich über diese Trennung von der Religion entfremdete, kehrt als Kopimist zurück, der die Memetik als Informationstechnologie selbst zur Religion erhebt.

Kopimismus - politische Religion, religöse Politik oder mehr?

Die staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft in Schweden, entlarvt den Kopimismus scheinbar als rein politischen Schachzug, um die Verletzung bestehenden Urheberrechts religiös zu rechtfertigen und eine entsprechende Anpassung dieser Gesetze zu erzwingen.

Für den Augenblick mag das stimmen.

Aber das neue Mem des Kopimismus wird in Zukunft den gleichen zufälligen Abläufen ausgesetzt sein, wie jedes Mem vor und nach ihm.

Mit jedem kommenden memetischen Kopiervorgang, jeder weiteren memetischen Übertragung, jedem neuen “Gläubigen” wird sich ein Kopierfehler an den nächsten ketten, eine Mutation der Ur-Idee auf die nächste folgen.

Was, wenn Kopimismus für den nächsten spirituell Suchenden nicht mehr nur religiöses Mittel zum politischen Zweck ist, sondern echte Offenbarung, echtes Bekenntnis?

Was, wenn sich diesem ersten Rechtgläubigen weitere Orthodoxe anschlössen? 

Was, wenn sich diese neue Orthodoxie mit ihren Glaubenssätzen vollständig von den überlieferten politischen Beweggründen verselbständigen würde?

Der Kopimismus würde durch die Memetik die er heiligt, selbst zu dem mutieren, was er jetzt noch imitiert.

Vom technologischen zum religösen Mem, zur technologischen Religion.

Alle Möglichkeiten sind offen.

Die Verwandlung hat erst begonnen.

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